Platon oder Eros

Ein Beitrag zur Diskussion der Realitätsstrukturen des mittelhochdeutschen Minnesangs

von Vizepraesidentius

Kennen Sie einen Menschen, der an einem heißen Sommertag auf seiner Wanderung an einem Obstverkaufsstand vorbeikommt, dort voll Freude von seinen zusammengkratzten Groschen einen schönen großen runden saftigen Apfel ersteht, um dann nur daran zu schnuppern und sich an seinem zu Geruch erfreuen - weit davon entfernt, sich durch einen kraftvollen Biß in saftige Kühle Linderung für seine ausgetrocknete Stimme zu verschaffen? Kennen Sie einen solchen Menschen? Nein? Ich auch nicht.

Und doch muß es wohl einmal solche gegeben haben. Vor langer Zeit allerdings, vielleicht sind sie auch ausgestorben, denn wir kennen ja keine mehr. So etwa ab 1100 sollen sie gelebt haben, wie uns die Erforscher des Minnesangs erzählen wollen. Was haben nun apfelessende Menschen mit dem Minnesang zu tun? Dieser Frage soll der erste Teil meines Vortrages nachgehen. Im zweiten Teil soll dann anhand von Textbeispielen untersucht werden, wie die Minnesänger wahrscheinlich mit ihren erworbenen Äpfeln umgingen.

1) Minne als platonische Beziehung.

Nun soll mit dieser Überschrift nicht gesagt werden, Plato habe keine Äpfel gegessen, (auch wenn das nebenbei bemerkt sehr wahrscheinlich ist, da zu dieser Zeit wohl kaum schon Äpfel nach Griechenland importiert wurden.) Vielmehr sollte das Anfangsbeispiel die in der Minnesangforschung weitverbreitete These illustrieren helfen, nach der die vom Minnesänger durch seine Dichtung erstrebte Beziehung zu seiner besungenen Herzensdame rein platonischer Natur sei. Der Minnesänger erwarte gar nicht die Erhörung seiner Wünsche und musikalisch vorgetragenen Sehnsüchte.

"Der Sänger erhofft nur die bescheidensten Zeichen von Symphatie, einen angedeuteten Gruß oder die Annahme eines Dienstes". Dabei bedinge die "ins Unerreichbare hinausgeschobene Erfüllung" eine "unablässig fortgesetzte Werbung" (Christoph Cormeau, Art.: "Minne" in TRE Bd. S.760). Die Dichtungen des Minnesangs entsprächen "einer Liebe, die keine Erfüllung sucht, sondern vielfältig verschlüsselt und in immer neuen Gleichnissen den Preis der Herrin singt."
(W. Felix, W. Marggraf, V. Reising, G, Schönfelder (Hrsg.): Musikgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1984, S. 70).

Diese Auffassung findet sich in immer neuen Variationen in zahlreichen Schriften, die sich mit dem Minnesang beschäftigen. Um die These von Minne als platonischer Beziehung auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich über Platos Verständnis von Liebe klar zu werden.

EXKURS: Eros bei Platon
Bei Platon steht der Begriff "Eros" noch nicht wie im späteren Sprachgebrauch für die sinnliche Liebe. Vielmehr bezeichnet das Wort in seinem Dialog SYMPOSION, der in der mittleren, der "klassischen" Periode seines Schaffens entstanden ist, das Verlangen an sich, das Streben nach dem Schönen und dem Guten, nach der höchsten Form von Wirklichkeit. "In diesem Streben entfaltet der Mensch seine Möglichkeiten und wird durch die Selbstentfaltung immer mehr vom Kosmos bestimmt. Er wird selber verändert." (Anton Hügli, Poul Lübcke (Hrsg.): Philosophielexikon, Reinbeck 1991, S. 171)

Verlangen und Begehren kann man (nach Platon) aber nur etwas, was man nicht hat, denn was man besitzt, braucht man nicht mehr zu begehren. Von dieser Bestimmung des Begriffes fällt es nicht schwer, die Brücke hinüber zum Minnesang zu schlagen. So wie für Platon das absolut Gute und Schöne immer unerreichbar, aber darum auch stets zu ersteben sein wird, so sei auch für den Minnesänger die Dame unerreichbar fern und dadurch erst das Objekt unablässig singender Begierde. Insofern bezeichnet auch der in die Umgangssprache als "rein geistige Liebe" im Gegensatz zur körperlichen Liebe eingegangene Begriff von der "platonischen Liebe" ursprünglich eine Beziehung, die trotz ständigen gegenseitigen Begehrens nie zu ihrer (körperlichen) Erfüllung kommt.

Nun drängt sich jedem eifrigen Mitglied unseres Verbandes und Liebhaber des Minnesanges mit aller Gewalt die Frage auf, ob denn nun die Minnesänger seinerzeit tatsächlich ihre Äpfel nur beschnuppert und gestreichelt haben, also ganz ohne Absicht auf Erhörung ihrer Angebeteten ihre Lieder sangen. Die wissenschaftliche Korrektheit verbietet uns hier vorschnelle emotionale Urteile. Lassen wir statt dessen lieber die uns überlieferten Quellen selbst zu Wort kommen.

2) Minnesang als Liebesbegehren
So schreibt HEINRICH VON MORUNGEN, der schon vor 1190 als Sänger hervortrat und im Dienste des Markgrafen Dietrich von Meißen stand:
Sie gebiutet únde ist dem herzen mîn
frouwe und hêrer dann ich selbe sî.
hei wan müeste ich ir alsô gewaltic sîn
daz si mir mit triuwen wêre bî
ganzer tage drî und eteslîche naht!
Herrin meines Herzens ist nur sie allein
mächtiger, als wenn ich selbst es sei:
hei, könnt' ihrer ich so übermächtig sein,
daß sie wohne mir getreulich bei
ganzer Tage drei, nicht minder in der Nacht!
Ob die beiden Liebenden wohl drei Tage und drei Nächte lang gemeinsam über Platons Dialoge philosophieren wollten? Deutlicher beantwortet diese Frage der fahrende Ritter mit Namen "Tannhäuser", der auch am Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. 1228/29 teilnahm:
Da diu tavelrunde was,
dâ wir dô schône waren,
daz was loup, dar under gras;
si kunde wol gebâren.

Dâ wás niht massenîe mê
wan wír zwei dort in einem klê.
si leiste daz si solde,
und tet daz ich dâ wolde.

Ich tet ir vil sanfte wê.
ich wünsche daz ez noch ergê.
ir zimet wol daz lachen:
dô begunden wir do beide ein gemellîchez machen:
dáz geschach von liebe und ouch wunderlîchen sachen.

 

Wo unsre Tafelrunde saß
und wir gesellig waren,
oben Laub und unten Gras
wie hold war ihr Gebaren!

Da war keine Massenei
als im Klee allein wir zwei.
Sie wußte, was sie sollte,
und tat mir, was ich wollte.

Ich tat ihr gar sänftlich weh,
ach daß es wieder so ergeh!
Wohl stand ihr an ihr Lachen.
So begannen wir beide ein vergnügtes Spiel zu machen
mit verliebten Scherzen und gar wunderlichen Sachen.

 

Wer hier noch zweifelt, dem sagt es Tannhäuser auch noch ganz unmißverständlich, daß es sich zumindest in diesem Fall keineswegs um eine rein platonische Beziehung handelte:
si wart mîn trût und ich ir man sie ward mein Weib und ich ihr Mann
(Quelle:Friedrich Neumann: Deutscher Minnesang (1150-1300) RECLAM Stuttgart1991)


Ich denke, diese Beispiele dürften vorerst genügen. Eins ist dabei hoffentlich deutlich geworden: von Minnesang als ausschließlich dienende Verehrung einer hohen Frau ohne Wunsch und Hoffnung auf eine beiderseitige -auch körperliche- Liebesbeziehung, kann so pauschal nicht die Rede sein.

Wie konnte es aber zu dieser Meinung kommen? Natürlich darf man nicht vergessen, daß die hier aufgeführten Beispiele von den Rittern stammen, die das zugegebenermaßen gewiß seltene Glück hatten, in ihrem Werben und Minnesang erhört zu werden. Wie oft jedoch ist dies nicht der Fall. Wen wundert's, wenn dann die Minnesänger auch bescheidener in ihren Wünschen werden und sich mit einem Blick oder einem Gruß der Liebsten vorerst zufrieden geben. Jedoch liegt der Trugschluß darin, von solchen bescheidenen Äußerungen auf eine überhaupt nicht vorhandene Absicht schließen zu wollen.

Lassen Sie mich also das Ergebnis unserer Untersuchung auf folgende kurze Formel bringen:
Gewollt haben sie schon, bloß können haben sie nicht gedurft.

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